Joachim Schreiner – «Der Beizug von anderen Fachdisziplinen sollte unkomplizierter möglich sein und strukturell verankert werden.»

Familienrecht

Nach seinem Psychologiestudium in Freiburg in Breisgau promovierte Dr. Joachim Schreiner an der Psychologischen Fakultät in Basel. Er hat eine psychotherapeutische Ausbildung in Heidelberg absolviert und ist seit 1991 in den UPK Basel tätig, wo er aktuell Psychologischer Klinikleiter und Leiter der Fachstelle Familienrecht ist. Ausserdem hat er einen Lehrauftrag an der juristischen Fakultät in Basel.

Welche Verbindung haben Sie zum Familienrecht?

Meine Verbindungen zum Familienrecht sind vielfältiger Natur. Zum einen leite ich in der Psychiatrischen Klinik für Kinder und Jugendliche in Basel (UPKKJ) die Fachstelle Familienrecht. Wir erstellen im Auftrag von Gerichten und Behörden in strittigen Fällen Gutachten und führen angeordnete Beratungen/Therapien durch. Wir unterstützen Gerichte bei der Anhörung von Kindern oder nehmen als Experten an Verhandlungen teil.

Zum anderen war ich über viele Jahre als Dozent in der Ausbildung zum Fachanwalt Familienrecht und zur Kindesvertretung tätig. Lehraufträge zum Kindesschutz und die Vorlesung an der juristischen Fakultät in Basel «Familienrecht mit interdisziplinären Bezügen» zusammen mit Prof. Dr. Jonas Schweighauser schaffen die Verbindung zur universitären Lehre. Hinzu kommen Fallsupervisionen mit zahlreichen Behörden, Sozial- und Rechtsdiensten und die Mitarbeit in diversen Arbeitskreisen zum Kindesschutz und Familienrecht. Allen Tätigkeiten gemeinsam ist der interdisziplinäre Ansatz, d.h. die fächerübergreifende Zusammenarbeit im Interesse der betroffenen Kinder und Familien.

Was sind Ihre alltäglichen Herausforderungen in der Kinderschutzgruppe?

Die grösste Herausforderung ist, immer wieder aufs Neue zu versuchen selbst in ausweglos erscheinenden Fällen nicht den Optimismus zu verlieren und doch noch für die Kinder und Eltern zumindest eine Verbesserung ihrer Lebenssituation, sei es bei hochkonflikthaften Trennungen/Scheidungen oder sei es bei schweren Kindesmisshandlungen, zu erwirken.

Gibt es Anekdoten aus Ihrer Tätigkeit (im Bereich Familienrecht)?

Da ich schon sehr viele Jahre in der Kinderpsychiatrie tätig bin, kann es vorkommen, dass ich im Wartezimmer auf Eltern treffe, die früher bei mir in Behandlung/Abklärung waren und nun mit ihren eigenen Kindern zu mir kommen wollen oder müssen. Ich erinnere mich noch gut an eine Familie, bei welcher das neu angemeldete Kind dem Elternteil, der früher zu mir kommen musste, derart ähnlich sah, dass es sich so anfühlte, als sei die Zeit 25 Jahre zurückgedreht worden und ich wieder ganz am Anfang der Arbeit mit dieser Familie stehen würde.

Wenn Sie die Möglichkeit hätten, etwas am Familienrecht ändern zu können, was wäre das?

Gemäss meiner Erfahrung lassen sich die komplexen Fälle nur durch interdisziplinäre Zusammenarbeit bewältigen. Der Beizug von anderen Fachdisziplinen ist zwar im Rahmen von Expertisen und Gutachten grundsätzlich möglich, doch sollte dies unkomplizierter möglich sein und vor allem strukturell verankert werden.

Welches wäre Ihr wichtigster Tipp in familienrechtlichen Verfahren?

Grundsätzlich steht Deeskalation an allererster Stelle. Jegliche Form von Eskalation, vor allem aber chronische Hochkonflikthaftigkeit, schadet allen Beteiligten. Ich kann Eltern nur raten, sich bei anbahnenden Auseinandersetzungen sehr früh gemeinsam fachkundig deeskalativ beraten zu lassen. Dies ist eine sehr gute Investition in eine stressfreiere Zukunft!

Wie hat sich das Familienrecht in den vergangenen Jahren Ihrer Meinung nach verändert?

Diese Frage kann ich nur aus dem Blickwinkel eines psychologisch tätigen Praktikers beantworten. Die Veränderung bei der Regelung/Berechnung der finanziellen Belange (Unterhalt) hat auch in meinen Beratungen starken Wiederhall gefunden und über längere Zeit zu grossen Verunsicherungen bei den Eltern geführt. Die Verquickung von Betreuung und Unterhalt und dem grösseren Wunsch vieler Väter nach mehr Betreuungszeiten hat zahlreiche Konflikte geprägt.

Mir fällt zudem auf, dass der Gap zwischen den rechtlichen Möglichkeiten des angemessenen Einbezugs der Kinder/Jugendlichen in die Entscheidungsfindungsprozesse und der tatsächlichen Umsetzung in der Praxis nach wie vor immens ist. Z.T. sehe ich da sogar Rückschritte, d.h. dass Kinder in der Praxis (sei es bei Abklärungen, der Frage der Einsetzung einer Kindesvertretung oder bei Beratungsangeboten) weniger Partizipationsmöglichkeiten erhalten.

Auf der anderen Seite sehe ich, dass Gerichte und Behörden vermehrt die Möglichkeiten von angeordneten Beratungen für die Eltern nach Art. 307 (als Elternpaar oder in Kursen mit anderen Eltern) nutzen, um so zu einvernehmlichen Lösungen bei strittigen Fällen zu gelangen.

Welches sind Ihrer Meinung nach die grössten Stärken und Schwächen im Schweizer Familienrecht?

Auch wenn ich die rechtlichen Begründungen nachvollziehen kann, bin ich aus rein psychologischer Sicht immer wieder verwundert, dass es chronisch hochstrittigen Eltern möglich gemacht wird, über viele Jahre im sog. Kostenerlass vielmals unsinnige Rechtstreitigkeiten auszufechten. Auch die unterschiedlichen Zuständigkeiten und teilweise unterschiedlichen rechtlichen Voraussetzungen von verheirateten und unverheirateten Eltern machen die Praxis aus meiner Sicht unnötig kompliziert. Auf der anderen Seite sehe ich, welchen grossen Spielraum das Gericht in den Verfahren hat. Viele Richterinnen und Richter, die ich kenne, nutzen diese Möglichkeiten, um Konsenslösungen im Interesse der Familien zu erwirken.

Welches ist Ihrer Meinung nach die grösste Herausforderung im Schweizer Familienrecht in den kommenden 10 Jahren?

Ich glaube einer der grossen Herausforderungen dürfte sein, dass die zunehmende Vielfalt an Familienformen in der Gesetzgebung aber auch der Rechtsprechung ausreichend Berücksichtigung findet.

Lisa Eisenhut-Hug | legalis brief FamR 29.02.2024