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VORGESTELLT

Salome Wolf – «Die aktuell grösste Herausforderung liegt in den Kapazitäten aller familienunterstützenden Stellen.»

Ehe, Eheschutz, Ehetrennung, Erwachsenenschutz, Kinderbetreuung, Kindesschutzmassnahmen, Kindesverhältnis, Scheidung auf gemeinsames Begehren, Scheidungsklage, Scheidungskonvention, Unterhaltsklage, persönlicher Verkehr

Dr. Salome Wolf, Advokatin, ist seit 2016 Präsidentin am Zivilgericht Basel-Stadt. Davor war sie Gerichtsschreiberin am Appellations- und Zivilgericht Basel-Stadt, hatte diverse Lehraufträge an der Universität Basel und war als Richterin beim Schweizerischen Fussballverband sowie in der Advokatur tätig. Familientatsächlich lebensprägend ist ihre Rolle als Mutter eines Sohns, 13, und einer Tochter, 11.

Welche Verbindung haben Sie zum Familienrecht?

Als Zivilgerichtspräsidentin bearbeite ich (wie alle meine Kolleginnen und Kollegen) auch Fälle aus dem gesamten Familienrecht. Scheidungen und die Regelung des Getrenntlebens (Eheschutz) bilden dabei den Hauptanteil. Weiter hinzu kommen Drittschuldneranweisungen, Fälle betreffend das rechtliche Kindesverhältnis und Streitigkeiten betreffend den Unterhalt von Kindern nicht miteinander verheirateter Eltern sowie Unterhaltsklagen von volljährigen Kindern gegen die Eltern.

Was sind Ihre alltäglichen Herausforderungen?

Im Familienrecht sind die Herausforderungen ganz unterschiedlicher Natur. Ich sehe sie in den meisten Fällen weniger im rechtlichen Bereich, sondern im Umgang mit den Parteien. Gerade bei frisch getrennten Ehegatten sind oft noch starke negative Emotionen vorhanden, die Kommunikation leidet oder findet überhaupt nicht mehr statt, und es bestehen Unsicherheiten über die Zukunft oder z.B. Sorgen darüber, wie die Kinder vom anderen Elternteil betreut oder tatsächlich oder vermutungsweise manipuliert werden. Für viele Ehegatten ist es auch ein Schock, wie viel teurer das Leben mit zwei Haushalten wird. Hier eine Balance zwischen rechtlicher Argumentation und dem Eingehen auf die weniger juristischen Belange zu finden, ist nicht immer einfach, macht die Arbeit aber abwechslungsreich. Letztlich muss das Gericht einen rechtlichen Entscheid fällen, falls es nicht zu einer einvernehmlichen Lösung kommt. Als Erfolg verbuche ich es dann, wenn beide Ehegatten verstanden haben, weshalb ein Entscheid so und nicht anders ausgefallen ist.

Eine Herausforderung ist vor allem in letzter Zeit auch die Organisation und tatsächliche Umsetzung von Kindesschutzmassnahmen, da die Fachstellen (mit denen wir sehr gut zusammenarbeiten) schlicht zu viel zu tun haben. Z.B. müssen wir aktuell für eine Begutachtung einer familiären Situation mehrere Wochen oder gar Monate warten, bis die gutachterliche Arbeit überhaupt aufgenommen werden kann, auch wenn es aus Sicht insbesondere des Wohls der betroffenen Kinder dringend ist.

Alltäglich und wenig juristisch sind auch die Zustellungsprobleme. Wie bringen wir überhaupt eine beklagte Partei zur Mitwirkung am Verfahren? Das ist mitunter nicht nur dann ein Problem, wenn jemand im Ausland wohnt.

Gibt es Anekdoten aus Ihrer Tätigkeit?

Da gibt es praktisch wöchentlich Geschichten oder zumindest kurze Momente, die filmreif sind: schöne und traurige, lustige und absurde Situationen. Eheschutzverfahren sind grundsätzlich mündliche Verfahren, und oft hören wir erst an der Verhandlung, um was es eigentlich geht, oder wir werden von neuen Lebenssituationen der Parteien überrascht.

Als kleine Auswahl seien diese Episoden erwähnt:

Ich habe schon Ehegatten geschieden, die sich nach einer ersten Scheidung wieder geheiratet haben, nur um herauszufinden, dass es mit der Ehe auch dieses Mal nicht klappt. Als erneut Geschiedene verliessen sie das Gericht in bester Laune und gingen zusammen feiern. Umgekehrt ist es schon mehrfach vorgekommen, dass Parteien in der Verhandlung auf einmal zur Erkenntnis gelangten, dass sie sich doch lieben und wieder zusammenkommen wollen – das ist dann «Eheschutz» im wahrsten Sinn des Wortes. Eine spezielle Atmosphäre ist es, wenn ein volljähriges Kind, das Unterhalt geltend macht, in der Schlichtungsverhandlung nach über 15 Jahren zum ersten Mal wieder auf den eigenen Vater trifft. Zu regeln hatte ich auch schon die Betreuungszeiten für den Familienhund (andere Haustiere haben es übrigens ebenfalls bis vor Gericht gebracht). Unvergesslich sind schliesslich die Tränen eines Ehemanns, der seiner Frau am Tag vor der Verhandlung trotz Kontaktverbot noch Blumen vor die Türe gelegt hatte. Seine Vertretung brachte es auf den Punkt: Es war eine «amour fou» und er «fou d’amour».

Wenn Sie die Möglichkeit hätten, etwas am Familienrecht ändern zu können, was wäre das?

Zumindest in den summarischen Eheschutzverfahren sollte man erstinstanzlich – ich sage dies nun vielleicht etwas pointiert – auch ergebnisorientiert gerundet entscheiden und dies auch transparent machen dürfen. Ich denke dabei vor allem an die Unterhaltsberechnungen. In manchen Situationen sind hier die diversen Tabellen zwar überaus hilfreich, jedenfalls bis zu einem gewissen Punkt. Es gilt aber zu vermeiden, dass man scheingenaue Resultate produziert. Ich lege äusserst selten Unterhaltsbeiträge auf den Franken (oder gar Rappen) genau fest. Ein bestimmter Unterhaltsbeitrag soll auch für die Adressaten nachvollziehbar sein und mehr als einen Monat überdauern können. Gerade im Eheschutzverfahren ist meist kurz nach einem Entscheid die nächste Änderung der Lebenssituation bereits schon wieder auf dem Weg. Oft braucht eine Familie in solchen Situationen rasch eine Regelung, die dann gelebt und erfahren werden kann. Die getrennte Familie bzw. jeder Haushalt sollte sich auf ein ungefähres Budget einstellen können, so dass nicht jede Änderung die Parteien erneut ans Gericht bringt. Als Rechtsöffnungsrichterin hatte ich einmal Rechtsöffnung für den nicht bezahlten Teil eines Unterhaltsbeitrags zu erteilen, weil der pflichtige Ehemann die Kosten für das U-Abo, das wir im Familienrecht grundsätzlich praxisgemäss für die Mobilität beim Bedarf berücksichtigen, vom festgelegten Unterhaltsbeitrag abgezogen hatte. Er habe an der Eheschutzverhandlung gehört, die (damals) CHF 52.00 würden für das U-Abo der Tochter eingerechnet, doch hätte sie gar kein U-Abo, weshalb er diesen Betrag nicht als Unterhalt schulde. Natürlich darf man einen Unterhaltsentscheid wegen weniger Franken anfechten – meistens ist der Beruhigung der Situation der Familie damit aber nicht gedient. Je runder die Unterhaltsbeiträge festgelegt werden, desto weniger Ressourcen werden in weitere Verfahren gesteckt. Das ist so sicher gewagt ausgedrückt, aber vielleicht möchte ich einfach eine Diskussion anregen.

Welches wäre Ihr wichtigster Tipp in familienrechtlichen Verfahren?

Für Anwälte und Anwältinnen: Sattelfest im Dossier, aber erstinstanzlich auch pragmatisch lösungsorientiert.

Für die Parteien: Vertrauen in das Gericht, dass sie gehört werden. Und die Unterlagen rechtzeitig einreichen. Ich kann z.B. eine Einigungsverhandlung sinnvoll vorbereiten, wenn ich die relevanten Unterlagen rechtzeitig studieren kann. Die Parteien sollten sich zudem gerade im Familienrecht auch überlegen, ob sie die Lösung des familiären Konflikts selbst in der Hand behalten oder eben den Entscheid dem Gericht überlassen wollen. Für manche Ehegatten kann aber gerade ein Entscheid die bessere Lösung sein, weil er sie z.B. davon entlastet, selbst die Verantwortung zu übernehmen, oder weil sie sich später nicht selbst vorwerfen wollen, dass sie bei einer Vereinbarung (vermeintlich) zu stark nachgegeben haben.

Wie hat sich das Familienrecht in den vergangenen Jahren Ihrer Meinung nach verändert?

Weniger das Recht als die tatsächlichen Situationen haben sich verändert. Leider habe ich den Eindruck, die menschlich schwierigen Fälle haben zugenommen. Das gilt vor allem für Kinderbelange. Hier denke ich manchmal, eigentlich müsste man die zerstrittenen Eltern in eine Therapie schicken; stattdessen müssen wir Beistandschaften für die Kinder und andere Kindesschutzmassnahmen anordnen. Die beste Kindesschutzmassnahme wäre es, wenn die Eltern ihrer Verantwortung nachkommen und selbst Unterstützung annehmen würden.

Welches sind Ihrer Meinung nach die grössten Stärken und Schwächen im Schweizer Familienrecht?

Als Stärke sehe ich die Flexibilität, z.B. soll der Unterhalt angemessen sein. Vielleicht müsste hier auch manchmal die Rechtsanwendung flexibler gehandhabt werden, was ich schon bezüglich des bedachten Umgangs mit den Unterhaltstabellen erwähnt habe. Natürlich immer nur so flexibel, dass der Entscheid sich rechtlich überzeugend begründen lässt.

In verfahrensrechtlicher Hinsicht ist der niederschwellige Zugang zum Gericht als Stärke zu erwähnen, zudem der Vorgang bis zum Entscheid – jedenfalls im summarischen Eheschutzverfahren, das wir in Basel grundsätzlich mündlich führen, und im Scheidungsverfahren bis und mit Einigungsverhandlung. Die meisten strittigen Scheidungsverfahren können wird dort einvernehmlich beenden, oft auch dank der hilfreichen Unterstützung der Parteivertretungen.

Was ich momentan als Schwäche empfinde ist nicht dem Recht zuzuordnen, stattdessen ist es die Situation der Überlastung der Fachstellen, vor allem im Bereich der Kinderbelange.

Welches ist Ihrer Meinung nach die grösste Herausforderung im Schweizer Familienrecht in den kommenden 10 Jahren?

Siehe oben. Ich glaube nicht, dass die Herausforderung primär im rechtlichen Bereich liegt, sondern in den Kapazitäten aller familienunterstützenden Stellen. Vor allem die Fachstellen für Kinderbelange und allgemein Institutionen für die Beratung und Unterstützung von Familien sollten mit mehr Kapazitäten ausgestattet werden.

Nadine Grieder | legalis brief FamR 30.05.2024